Lyrik – mein schönstes Gedicht

Ein Friedhofsgang.

Ein Friedhofsgang.

1.  Beim Totengräber pocht es an:
„Mach auf, mach auf, du greiser Mann!

2.  Tu auf die Tür und nimm den Stab,
mußt zeigen mir ein teures Grab!“

3.  Ein Fremder spricht`s, mit strupp`gem Bart,
verbrannt und rauh, nach Kriegerart.

4.  „Wie heißt der Teure, der Euch starb
und sich ein Pfühl bei mir erwarb?“

5.  „Die Mutter ist es! Kennt Ihr nicht
der Marthe Sohn mehr am Gesicht?“

6.  „Hilf Gott, wie groß, wie braun gebrannt!
Hätt nun und nimmer Euch erkannt.

7.  Doch kommt und seht! Hier ist der Ort,
nach dem gefragt mich Euer Wort.

8.  Hier wohnt, verhüllt von Erd und Stein,
nun Euer totes Mütterlein.

9.  Da steht der Krieger lang und schweigt,
das Haupt hinab zur Brust geneigt.

10.  Er steht und starrt zum teuren Grab
mit tränenfeuchtem Blick hinab.

11.  Dann schüttelt er sein Haupt und spricht:
„Ihr irrt, hier wohnt die Tote nicht!

12.  Wie schlöss` ein Mann so eng und klein
die Liebe einer Mutter ein!“

Johann Nepomuk Vogl Österreich 1802 – 1866


Quelle Deutsches Lesebuch Ausgabe B

Zweiter Teil
Balladen und Romanzen   1. Aufl. Wien 1841. S. 20.

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